Das Labyrinth der Wörter
Germain (Gérard Depardieu) ist um die 50 und nicht gerade vom Erfolg verwöhnt. Er verbringt sein Leben mit diversen kleinen Jobs, gießt im Garten sein selbst gezogenes Gemüse und erträgt mehr oder weniger stoisch seine tobende Mutter im Haus vis-à-vis, die ihm seine Existenz nicht verzeihen will. Den Rest seines Lebens verbringt er im Stammbeisl bei den Kumpels und der traurigen Wirtin mit Liebeskummer. Oder er schnitz. Oder er trifft sich mit seiner hübschen jungen Freundin, Annette, der Busfahrerin. Alles wäre schön und gut und durchaus erträglich. Doch dann lernt Germain den Menschen kennen, der das ganze Gefüge durcheinanderbringt: Margueritte (Gisèle Casadesus) sitzt neben ihm im Park, sie beide beobachten die Tauben, denen Germain insgeheim Namen gegeben hat und kommen rasch ins Gespräch. Die charmante alte Dame mit dem genauen Blick für’s Detail liest dem funktionellen Analphabeten aus Albert Camus "Die Pest" vor. Und danach ist nichts mehr, wie es war. Denn für Germain, der in der Schule immer fürchterlich gehänselt wurde, erschließt sich plötzlich eine neue Welt. Es entsteht eine fragile, höfliche, umsichtige neue Freundschaft zwischen den beiden. Doch als Marguerittes Augen schlechter und schlechter werden, muss Germain Großes tun: Er muss endlich lesen lernen, um ihr vorlesend ihre geliebten Bücher zu erhalten. Eine Herausforderung für ihn und seine Freunde, die für die plötzliche Veränderung gar kein Verständnis zeigen.
Das alles klingt unendlich kitschig und ja, ein wenig ist es auch, aber Depardieu meinte nicht umsonst, "Dieser Germain, das hätte ich sein können". Wie aus dem freundlichen Elephanten ein belesener Mensch wird, ist schon wegen Depardieus stets vorhandenen schauspielerischen Qualitäten eine wahre Freude. Und Gisèle Casadesus als weißhaarige Expertin der Wörter und Geschichten kann auch einer "Miss Daisy" jederzeit die Schau stehlen. Warmherziges, unterhaltsames, rührseliges, herzliches und kluges Kino aus Frankreich.